IRREVERSIBEL (Frankreich 2002)

Es gibt Filme, die beschäftigen uns länger als die meisten anderen, Filme, die treffen, schockieren und aufwühlen. Darunter gibt es Filme, die verdienen unsere emotionale Betroffenheit, andere bedienen sich ihrer lediglich. In welche Kategorie gehört nun IRREVERSIBEL?

Die Zeit zerstört alles. So der Leitsatz dieses Films, der dem Zuschauer erst an dessen Ende begegnet, somit aber am Beginn der Handlung. Denn Regisseur und Autor Gaspar Noé erzählt seine Geschichte à la MEMENTO rückwärts, die Geschichte einer Vergewaltigung und ihrer ebenso brutalen Rache. Und die steht am Anfang des Films: Nach einem irritierenden Prolog - in einem schäbigen Zimmer gesteht ein Mann einem anderen, dass er einst seine eigene Tochter missbraucht hat - folgt die Kamera zwei weiteren Nachtgestalten, die man später - soll heißen: früher - als Marcus (Vincent Cassel) und Pierre (Albert Dupontel) kennen lernen wird, in einen höhlenartigen Sado-Maso-Schwulenclub. Kurze Korrektur: Die Kamera folgt ihnen nicht, sie taumelt an ihrer Seite, dreht sich, überschlägt sich, jeden Dogma-Filmer zum fotografischen Phlegmatiker degradierend, wird neben dem hektischen Geschrei der Protagonisten zur Sogkraft in eine totale Rage. Die beiden Männer suchen jemanden, im Rausch von Aggression und Gewaltbereitschaft. Marcus geht zu Boden, Pierre erschlägt den Angreifer mit einem Feuerlöscher, scheinbar endlos dauern seine Hiebe an, die Kamera pendelt stets in der Nähe des zermalmten Gesichts. Ein Amoklauf der Selbstjustiz. Denn Alex (Monica Bellucci), Marcus Freundin und Pierres Ex, ist vergewaltigt worden, vergewaltigt und ins Koma geprügelt. Nach einer Party, auf der sie sich mit Marcus gestritten hat. In einem dunklen Fußgängertunnel voller Unrat, man kann den Urin förmlich riechen. Die sich jetzt beruhigende Kamera hält quälende neun Minuten drauf. Alex ist schwanger. Von Marcus, dem Macho, nicht vom intellektuellen Pierre, der immer noch in sie verliebt ist. Die letzte Einstellung des Films, also der Anfang der Geschichte, ist zugleich seine friedlichste: Alex auf einer Wiese im Park, gerade durch Selbsttest ihrer Schwangerschaft gewahr geworden, in einem Buch lesend - vermutlich jenem, das ihr Pierre empfohlen hat, ein philosophischer Text über die Unabwendbarkeit der Zukunft. Danach zirkuliert die Kamera von ihr weg, hinauf in ein grelles Licht - weiter zurück in die alles zerstörende Zeit?

Es wäre ein Leichtes, IRREVERSIBEL in der Luft zu zerreißen, ohne nur einmal kurz innezuhalten. Wie es wohl schon so mancher Kritiker getan hat. Weil der Film wütend macht, weil seine Bilder und Mittel nahe gehen und zugleich exploitativ wirken, die Provokation als Selbstzweck erscheinen lassen. Nur um mal wieder ein Festival-Publikum aufzumischen. Und letztlich krankt die rückwärts erzählte Story - ähnlich wie bei MEMENTO - bei aller visueller Vehemenz doch an einer Inhaltsleere, wenn man sie sich in der linearen Erzählform vorstellt, zumal hier der Faktor Gedächtnis (auch das des Zuschauers) keine Rolle spielt. Da sich Noé offenbar die Analyse wünscht, stellt sich also die Frage, was sein Film aussagen will. Dass Taten nicht mehr umkehrbar sind? Dass die Zukunft und der Tod feststehen? Dass der Mensch (oder nur der Mann?) in einer Gewalt- und Triebstruktur verhaftet bleibt ohne die Chance auf eine Weiterentwicklung? All das sind, simpel betrachtet, sicher keine neuen Diskurse, weder auf literarischer noch auf filmischer Ebene. Dennoch bleibt irgendwie das ungute Gefühl zurück, IRREVERSIBEL mit einer rein negativen Rezeption Unrecht zu tun und seiner eigentlichen Intention, dem Tabubruch, auf den Leim zu gehen. Man zeigt halt keine Vergewaltigung in Realzeit auf der Scope-Leinwand - pfui bah! Selbst dann (oder gerade dann) nicht, wenn die Härte der Inszenierung selbst dem männlichen Zuschauer das emotionale wie physische Grauen einer solchen Tat deutlich werden und gar unwillkürlich den Wunsch nach einer ebenso harten Vergeltung aufkeimen lässt. Das widerspricht unserer Vorstellung von einer "zivilisierten" Gesellschaft basierend auf Moral und Vernunft (interessanterweise ist es in IRREVERSIBEL gerade der Vernunftmensch Pierre, der in einem Gewaltexzess explodiert). Trotzdem heiligt der Zweck nicht die Mittel, lässt sich allzu leicht kultivieren, was man eigentlich kritisieren will. Es liegt in der beabsichtigten Natur eines solchen Films, ein Grenzgänger des modernen französischen Kinos wie auch vor einigen Jahren BAISE-MOI, voller Widersprüche und Zwiespältigkeit zu bleiben, trotz aller philosophischen Ansätze. Auch wenn man faszinierende Details entdeckt. So hängt über dem Bett von Alex und Marcus - in dem vermutlich jenes Kind gezeugt wurde, das nie das Licht der Welt erblicken wird - das Plakat zu Kubricks "2001" mit dem Motiv des Sternenkindes in seiner Fruchtblase, jene Neugeburt des Menschen als Überwesen. Beiläufiger kann man den vordergründigen, düsteren Nihilismus mit der dahinter liegenden Hoffnung auf eine moralische Spiritualität kaum kontakarieren. Andreas van Linn