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Kevin Baker: Dreamland. München: Knaur, 2001. 701 S. ISBN 3-426-62055-3

New York, das erste Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts geht zu Ende. Die Stadt ist das Ziel einer unendlich scheinenden Zahl von Einwanderern, die direkt am Zielort ihrer schweren Anreise damit beginnen, ihr Glück zu suchen. Doch die Stadt und ihre Bürger haben die Goldgräberstimmung vergangener Tage längst abgelegt und so versucht jeder nur den jeweils nächsten Tag zu überstehen. So ergeht es auch einer Näherin in einer der zahlreichen Textilfabriken, die mit ihrem Verdienst nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Eltern ernähren muß, da ihr Vater, ein Rabbi, von seiner Gemeinde verjagt worden ist und seitdem keiner Arbeit mehr nachgeht. Sie schuftet und schuftet, dies unter teils menschenunwürdigen Bedingungen, aber immer in der Angst auf die Straße gesetzt zu werden, wenn sie gegen ihren Vorarbeiter das Wort erhebt. Esther wird sich aber irgendwann der Gewerkschaft anschließen und für ihre Rechte kämpfen. Auch wenn Arbeitsverweigerung und Streik dazu führen können, daß man ins Gefängnis gesteckt wird. Ganz anders schlägt sich Trick, der Zwerg durch das alte New York. Er ist durch seine unnatürliche Körpergröße ein Teil einer der zahlreichen Attraktionen von Corney Island und er hat das Glück, der König eines ganzen Reiches von Zwergen zu werden. Trick bekommt sogar eine Königin, die zwar ein wenig verrückt ist, doch dafür ihre Rolle perfekt zu spielen weiß. Auf Corney Island können sogar Märchen wahr werden, doch am Ende weiß man immer, daß es nur eine Illusion ist, die für die Besucher der Vergnügungsparks geschaffen wurde. Auch Gauner wie Kid Twist müssen zusehen, wie sie zurechtkommen. Für den kleinen Gelegenheitsgauner, der sich meist zum Wohle der Politik die Hände schmutzig macht, in dem er Stimmzettel vernichtet und unliebsame Personen verschwinden läßt, kann jede noch so unüberlegte Handlung schwere Konsequenzen haben. Aber selbst Politiker wie Big Tim Sullivan haben, egal wie erfahren und wie hoch sie in der Hierarchie aufgestiegen sind, genau abzuwägen, welche Folgen eine von ihnen gefällte Entscheidung haben wird. Keiner, so scheint es, egal wie weit er es gebracht hat, hat es wirklich leicht. Zusätzlich zu all diesen Personen erfahren wir auch etwas über das Seelenleben von Sigmund Freud, der sich zusammen mit seinem Schüler Carl Gustav Jung auf Vortragsreise begeben hat und ebenfalls in diesen Tagen in New York eintreffen wird. Die Geschichten dieser vielen unterschiedlichen Personen werden sich treffen und irgendwie hat fast jedes Leben einen kleinen oder größeren Einfluß auf das Leben des anderen.

"Dreamland" von Kevin Baker ist ein großartiger historischer Roman, der einen fest in seinen Bann zieht und der einen Einblick in eine vergangene Zeit und in den Alltag zahlreicher Personen gewährt, die wirklich in New York im Jahre 1910 gelebt haben. Dabei beschränkt sich der Autor trotz der großen Anzahl der Personen nicht auf die Ereignisse in der Gegenwart, er geht auch mit großer Hingabe auf ihre Vergangenheit ein und beschreibt, was sie bis zum Zeitpunkt, an dem die Haupthandlung einsetzt, getan, erfahren und erlebt haben. Irgendwann stellt man dann fest, daß Baker dabei ein unglaubliches Geschick an den Tag legt und einen nicht immer gleich alles über eine Person erzählt. Immer an für den weiteren Verlauf der Handlung wichtigen Stellen, gibt er noch ein weiteres Detail preis und schon sind die Verbindungen zwischen den einzelnen Handlungen, die am Anfang völlig von einander getrennt verlaufen, plötzlich absolut klar. Kevin Baker legt mit "Dreamland" ein beachtliches Debüt hin und es ist nur zu hoffen, daß er uns noch öfters eine Geschichte, die in Wirklichkeit ganz viele Geschichten beinhaltet und die dabei auch noch ganz unterschiedliche Genre bedienen, erzählen wird.